Antifeministische Narrative der Sittlichkeit und Verführung
Argumentationen, die dem Tenor „Sie hatte aber einen kurzen Rock an“ folgen, stellen feministische Errungenschaften in Frage. Als der Minirock Anfang der 1960er Jahre in die Kleiderschränke einzieht, wird er zum Zeichen von Emanzipation und sexueller Selbstbestimmung. Wird nun nach einer Vergewaltigung der Fokus auf die Kleidung und das Verhalten der Betroffenen gelegt, relativiert das nicht nur das Gewaltverbrechen. Es werden auch emanzipatorische Erfolge instrumentalisiert, um Betroffene für die Gewalt verantwortlich zu machen, derer sie ausgesetzt sind. Damit lassen die Schuldzuweisungen an das Opfer reaktionäre Ideen einer weiblichen Sittlichkeit wiederauflebe, die juristisch bereits vor 50 Jahren ad acta gelegt wurde. Im Jahr 1973 wurde der rechtliche Begriff der sexuellen Selbstbestimmung eingeführt, welcher den bis dahin verwendeten Begriff der Sittlichkeit ablöste.
Den Erzählungen der vermeintlichen Provokation des Täters durch das Opfer liegt ein uralter antifeministischer Mythos zugrunde: nämlich der von der Frau als betörender Femme fatale. Er findet sich in Motiven wie den fleischfressenden Sirenen, der Verführung der Eva zum Sündenfall und der tödliche Unwiderstehlichkeit der Salome. Weiblicher Sexualität wird eine geradezu magische manipulative Macht zugesprochen, welche die Männer zu willenlosen Opfern werden lässt. Die „verführerischen Frauen“ nutzen die scheinbare Achillesferse des sonst so „rationalen Mannes“ für ihre Zwecke aus – und werden so zu den eigentlichen Täterinnen gemacht.
Sexualisierte Gewalt und Mehrfachdiskriminierung
Diese Mythen treffen aber nicht alle Menschen gleich. So sind von Rassismus betroffene Frauen mit spezifischen Sexualisierungs- – und somit auch Gewaltformen – konfrontiert. Rassistische Vorstellungen von „exotischen“, „hypersexuellen“ und „für den weißen Mann verfügbaren Wesen“ ziehen sich durch die weiße Geschichtsschreibung bis in die Gegenwart hinein. Dies führt dazu, dass sexualisierte Übergriffe auf von Rassismus betroffene Frauen häufiger normalisiert werden.
Frauen mit Behinderung erfahren zwei- bis dreimal häufiger sexualisierte Gewalt als Frauen ohne Behinderung. Besonders gefährlich ist hier die gesellschaftlich weit verbreitete ableistische Perspektive, dass Frauen mit Behinderung als Menschen ohne sexuelle Bedürfnisse angesehen werden. Wer vermeintlich „keine Sexualität hat“, kann auch nicht Opfer sexualisierter Gewalt sein – eine Annahme mit fatalen Folgen für Betroffene.
Und auch Menschen, die nicht cis sind, sind von nahezu allen Formen sexualisierter Gewalt besonders betroffen.
Sexualisierte Gewalt und die Sexualstrafrechtsreform 2016
Vor der Strafrechtsreform 2016 lag eine Sexualstraftat nur dann vor, wenn Gewalt angewendet, angedroht oder eine schutzlose Lage ausgenutzt wurde. Die „Nein heißt Nein“-Regelung ermöglicht es, dass sexuelle Handlungen, die gegen den erkennbaren Willen einer Person ausgeübt werden, als Straftat gelten.
Die „drohende Gefahr einer Welle an Falschbeschuldigungen“ erweist sich als abstruse Vorstellung, wirft man einen Blick auf das Anzeigeverhalten von Betroffenen sexualisierter Gewalt: Nur in einem Bruchteil der Fälle – je nach Studie 5 bis 15 Prozent – kommt es überhaupt zu einer Anzeige. Die Datenlage hierzu variiert je nach untersuchtem Zeitraum und Region. Aber Achtung, das sind nur die eingegangenen Anzeigen! Denn in gerade einmal in 10 bis 15 Prozent der angezeigten Fälle folgt dann eine Anklage. Und von diesen wenigen Anklagen endet wiederum ein verschwindend geringer Teil in einer Verurteilung. Um das Ergebnis einer Studie zu zitieren: „Von Hundert Frauen, die vergewaltigt wurden, erlebt nur etwa eine einzige eine Verurteilung“. Die meisten eingeleiteten Verfahren werden eingestellt oder die Angeklagten freigesprochen.
Und hier setzen Antifeminist*innen an: Die hohe Anzahl an Verfahrenseinstellungen und Freisprüchen werden als vermeintliche Belege dafür herangezogen, dass Falschbeschuldigungen gang und gäbe seien. Kein Verurteilter = keine Sexualstraftat. So funktionieren aber weder das deutsche Rechtsystem noch die Interpretation von Statistiken. Woran scheitert es dann? Zum einen kursieren auch in Ermittlungsbehörden und Gerichtssälen Vergewaltigungsmythen sowie Opfer- und Geschlechterstereotype, wodurch sexualisierte Gewalttaten nicht unbedingt als solche anerkannt werden (siehe oben). Zweiten kann nicht in jedem Fall ein Täter identifiziert werden – ohne Angeklagten kein Urteil. Und drittens ist es für Betroffene schwierig genug, Beweise für die Tat zu liefern. Das ist bei Delikten, bei denen die Betroffenen und Täter*innen häufig alleine waren, nicht überraschend. Wenn Aussage gegen Aussage steht, greift vor Gericht das Prinzip in dubio pro reo – im Zweifel für die angeklagte Person. Also selbst, wenn das Gericht der betroffenen Person glaubt, kann es die angeklagte Person aufgrund fehlender Beweismittel nicht verurteilen. Das Verfahren wird daraufhin eingestellt, oder es kommt zum Freispruch. Das bedeutet jedoch nicht automatisch, dass eine Falschaussage vorliegt! Die Behauptung, dass die Gesetzesänderung von 2016 zu einer Flut an Falschbeschuldigungen führen würde, offenbart sich in diesem Kontext also als absurd. Ganz im Gegenteil zeigen die ersten Bilanzen der Sexualstrafrechtsreform, dass zwar die Anzahl an Anzeigen deutlich gestiegen ist (auch durch die Einführung neuer Straftatbestände), die Zahl der Verurteilungen jedoch kaum.
Schuldverschiebung als antifeministische Strategie
Auch über das Themenfeld sexualisierter Gewalt hinaus ist die Umkehrung von Täter und Opfer ein beliebtes Motiv antifeministischer Behauptungen. So sprechen Antifeminist*innen von einer „Homo- und Translobby“, die vermeintlich so viel Macht habe, dass sie der Bevölkerung ihre „Gender-Ideologie“ aufdrücke. Hier werden gesellschaftliche Hierarchien auf den Kopf gestellt: Gerade trans Personen sind massiver Diskriminierung in nahezu allen Bereichen des Alltags ausgesetzt und gehören zu denjenigen Gesellschaftsmitgliedern, die am stärksten von Beleidigungen, Drohungen, physischer und psychischer Gewalt betroffen sind. Dieser Mechanismus, gesellschaftliche Machtverhältnisse umzukehren, findet sich auch bei Männerrechtlern: Weil Männer und Frauen eh längst gleichberechtigt seien, würden vermeintliche Gleichstellungsmaßnahmen in Wahrheit Männer benachteiligen. In den extremsten maskulinistischen Ausrichtungen werden Feminist*innen, analog zu antisemitischen Erzählungen, als übermächtige Gruppe inszeniert, die auf eine Unterwerfung aller anderen zum eigenen Vorteil abzielt.