»Gewaltschutz als ‚Gender-Ideologie‘ durch die Hintertür«

Auf einem Schrank sind zwei Schubladen mit Piktogrammen beschriftet, die für "Mann" und "Frau" stehen. Eine dritte Schublade darunter ist geöffnet. Aus ihr quellen Luftballons, ein Regenbogen und eine bunte Einhornfigur heraus. Vor dem Schubladenschrank ist eine Figur mit panischem Gesichtsausdruck, die sich die Hände an den Kopf hält (aus dem Gemälde "Der Schrei" von Edvard Munch)

‚Gender-Ideologie‘ ist ein rechter Kampfbegriff, um politische Maßnahmen gegen geschlechtsspezifische Gewalt
abzubauen. Nicht mit uns!

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»Gewaltschutz als ‚Gender-Ideologie' durch die Hintertür«

Hilfe, der Feminismus schafft die Geschlechter ab! Wohl an keinem anderen Wort arbeiten sich Antifeminist*innen derart verbissen ab wie am „Geschlecht“ – genauer: am Begriff „Gender“. Denn für Antifeminist*innen gibt es nur zwei Geschlechter: Frauen und Männer, so will es die Biologie, Ende der Diskussion. Das Thema ist aber um einiges komplexer, und es braucht politische Maßnahmen, um die geschlechtliche Vielfalt anzuerkennen und Menschen in ihrer persönlichen Entwicklung zu unterstützen. Seitdem dies immer mehr Beachtung findet, ist das antifeministische Gezeter laut: „Gender-Ideologie! Genderismus! Gender-Gaga!“, so die geifernde Reaktion aus dem antifeministischen Lager. Die Satire schreibt sich fast von selbst, wenn man bedenkt, dass dieses Lager selbst schnell von „feministischer Schnappatmung“ fabuliert, wenn es um die Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (kurz Istanbul-Konvention((UN Women (o.J.). Die Istanbul-Konvention. https://www.unwomen.de/informieren/internationale-vereinbarungen/die-istanbulkonvention.html))) des Europarats geht, also um das Thema geschlechtsspezifische Gewalt. Einmal tief Luft holen bitte.

Gewaltschutz und die Geschlechter-Debatte

Weil in der Istanbul-Konvention der Begriff „soziales Geschlecht“ benutzt wird, behaupten Antifeminist*innen, dass es eigentlich gar nicht um Gewalt gegen Frauen gehe, sondern darum, „Gender-Ideologien“ durch die Hintertür einzuführen. Damit drohe die Abschaffung der vermeintlichen „natürlichen Geschlechterordnung“, die Gefährdung der „klassischen Familie“ und die Einführung von „Homo- und Transideologien“. In anderen Ländern wie der Türkei und Ungarn haben solche Falschaussagen bereits dazu geführt, dass die Konvention komplett abgelehnt wurde – eine fatale Botschaft an Gewaltbetroffene. Sie nutzen also Queerfeindlichkeit, die in der Bevölkerung oft weit verbreitet ist, um Frauenrechte abzuschaffen. Denn nur dieser Deckmantel macht das eigentliche Ziel leichter akzeptierbar.

Antifeminist*innen in mehreren europäischen Ländern behaupten sogar, dass die Konvention mit nationalen und internationalen Gesetzen kollidiere: Gewalt gegen Frauen sei ja eh schon verboten, da brauche es keine weiteren Maßnahmen. Erste Stimmen aus Polen plädieren dafür, eine Allianz aufzubauen, die eine eigene Konvention formuliert. Als klarer Gegenpol zur Istanbul-Konvention soll diese vom „biologischen Geschlecht“ ausgehen. Unter dem Deckmantel des „Familienschutzes“ sollen darin u.a. Schwangerschaftsabbrüche und gleichgeschlechtliche Ehen verboten werden.((Harper, Jo (2021). Poland pitches ‘Warsaw Convention’ as Turkey exits Istanbul version. Emerging Europe. https://emerging-europe.com/news/poland-pitches-warsaw-convention-as-turkey-exits-istanbul-version/))

Wie sieht die Realität aus?

Die Sache mit der Biologie

Das wird Antifeminist*innen nicht gefallen: In der Biologie ist schon lange bekannt, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt.((Voss, Heinz-Jürgen (2016). Es gibt mehr als zwei Geschlechter. Tagesspiegel. https://www.tagesspiegel.de/wissen/gender-in-der-biologie-es-gibt-mehr-als-zwei-geschlechter/13386730.html)) Der Blick in die Natur zeigt ein breites Spektrum an sogenannten geschlechtlichen Merkmalen, die sich nicht einfach in „männlich“ und „weiblich“ aufteilen lassen. Die Idee, dass es nur zwei Geschlechter und so etwas wie geschlechtstypische Merkmale und Eigenschaften generell gibt, ist also menschengemacht und in diesem Sinne nicht naturgegeben.

Der Begriff „Gender“ sagt aber noch viel mehr aus. Er berührt erlernte Rollenbilder und Verhaltensweisen und berücksichtigt, wie diese unser aller Leben beeinflussen. Wenn in der Istanbul-Konvention vom sozialen Geschlecht gesprochen wird, geht es vor allem um gesellschaftliche Normen: Wer hat sich aufgrund von geschlechtlichen Zuschreibungen wie zu verhalten? Und wie können diese Normen zu geschlechtsspezifischer Gewalt führen?

Gewaltschutz

Gesetze sind ein wichtiger Baustein, um geschlechtsspezifische Gewalt zu bekämpfen. Etwas zu verbieten oder zu bestrafen, heißt aber noch lange nicht, dass das Problem an sich kleiner wird. Mehrere Berichte zeigen, dass die politischen Maßnahmen in Deutschland noch nicht ausreichen, um geschlechtsspezifische Gewalt effektiv zu bekämpfen.((Council of Europe (o.J.). Country Monitoring – Germany. https://www.coe.int/en/web/istanbul-convention/germany)) Die Istanbul-Konvention ist als völkerrechtlicher Vertrag dennoch eine wichtige Grundlage, um Verbesserungen zu bewirken. Sie hält weitreichende Rechte von Betroffenen fest und verpflichtet Staaten, deren Situation zu verbessern.

Feministische Forderungen

1. Wachsam bleiben

Antifeminist*innen sind in Europa und weltweit sehr gut vernetzt, üben Druck auf politische Entscheidungsprozesse aus und sind an Gesetzgebungen beteiligt.((Beck, Dorothee; Gesterkamp, Thomas; Kemper, Andreas; Stiegler, Barbara & von Bargen, Henning (2021). Antifeminismus auf dem Weg durch die Institutionen. Strategien und maskulistische Netzwerke. Heinrich-Böll-Stiftung. https://www.boell-bw.de/de/2021/10/04/antifeminismus-auf-dem-weg-durch-die-institutionen
WikiLeaks (2021). The Intolerance Network. https://wikileaks.org/intolerancenetwork/tree/part-1/Fundación CitizenGO)) Narrative, die den Schutz vor Diskriminierung und das Recht auf sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung als gesellschaftliche Bedrohung und Einschränkung Anderer einordnen, werden bewusst eingesetzt. Sie sollen Ängste in Teilen der Gesellschaft schüren und erkämpfte Rechte sowie Antidiskriminierungsmaßnahmen weiter abbauen. Die verheerenden Auswirkungen einer solchen antifeministischen Politik auf das Leben von Frauen, LGBTIQA+((Erklärung des Begriffs ‚LGBTIQA+‘: „“LGBTQIA+“ ist eine gebräuchliche Abkürzung für die Gemeinschaft der Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Pansexuellen, Transgender, Genderqueer, Queer, Intersexuellen, Agender, Asexuellen und Verbündeten. Das Akronym bildet sich aus den englischen Begriffen: Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Queer, Intersexed, Agender.“ Siehe: Das Nettz (o.J.). LGBTQIA+. https://www.das-nettz.de/glossar/lgbtqia)), Menschen mit Behinderungen und anderen marginalisierten Gruppen zeigen sich bereits in Ländern wie Polen, Ungarn oder der Türkei.((Beispiele zur Situation in den drei Ländern:
Sendhardt, Bastian (2020). Die Istanbul-Konvention: Ein Trojanisches Pferd vor den Toren Warschaus? Deutsches Polen Institut. https://www.deutsches-polen-institut.de/blog/die-istanbul-konvention-ein-trojanisches-pferd-vor-den-toren-warschaus
Zeit Online (2020). Parlament lehnt Konvention zum Schutz von Frauen ab. https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-05/ungarn-parlament-istanbul-konvention-europarat-gewalt-gegen-frauen
Amnesty International (2021). Istanbul-Konvention: Wer austritt, gefährdet Frauen und Mädchen. https://www.amnesty.de/informieren/aktuell/tuerkei-istanbul-konvention-austritt-gefaehrdung-frauen-maedchen)) Eine politische und gesellschaftliche Auseinandersetzung mit diesen strategischen Narrativen ist dringend notwendig, um sich klar dagegen zu stellen. Die Forderung nach einer neuen Konvention unter dem Deckmantel des „Familien- und Lebensschutzes“ sollte als (Be-)Drohung verstanden werden.

2. Den strategischen Einsatz von Queerfeindlichkeit erkennen und widersprechen

Frauenrechte (wie die Istanbul-Konvention) und die Rechte queerer Menschen gegeneinander auszuspielen hat sich zu einer wesentlichen antifeministischen Argumentationsfigur entwickelt. Ziel ist dabei, repressive Maßnahmen und diskriminierende Praxen zu begründen und durchzusetzen. Frauenrechte und die Selbstbestimmung bzw. die Rechte von LGBTIQA+ stehen aber in keinem Widerspruch zueinander. Zumal sie keine sich ausschließenden homogenen Gruppen sind: Frauen sind auch trans, lesbisch, bisexuell etc. Der Einsatz gegen menschenfeindliche Gewalt und Diskriminierung geht nur gemeinsam. Ein differenzierter Blick auf unterschiedliche Lebensrealitäten und Mehrfachdiskriminierung ist dabei ebenso notwendig wie Solidarität.

3. Wissenschaftliche Erkenntnisse und Lebensrealitäten anerkennen

Studien über Geschlecht und Geschlechterverhältnisse haben über Jahrzehnte bewiesen, dass die beschworene „natürliche“ Zweigeschlechtlichkeit nicht existiert. Hinter geschlechtlicher und sexueller Vielfalt stehen weder Ideologie noch Bedrohung, sondern vielfach gelebte Realität, die zunehmend auch Teil wissenschaftlicher Auseinandersetzungen ist. Damit antifeministische Falschbehauptungen sich nicht in der Gesellschaft verbreiten und etablieren können, müssen wissenschaftliche Erkenntnisse ernst genommen und die vielfältigen Lebensrealitäten von Menschen anerkannt werden

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