»Gewalt gegen Männer ist das größere Problem«

Eine Schreibtischlampe ist auf ein Balkendiagramm mit der Beschriftung "18%" gerichtet. Der Balken ist zweifach eingerahmt, fünf Pfeile zeigen aus allen Richtungen darauf. Daneben steht ein unauffälligerer zweiter Balken, auf dem nur sehr blass die Zahl "82%" zu lesen ist.

Keine Verdrehung von Tatsachen! Statt gegenseitigem Ausspielen, klare Ansagen.
Das größte Problem hinter Gewalt sind gefährliche Männlichkeitsbilder.

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»Gewalt gegen Männer ist das größere Problem«

„Männer erfahren viel mehr Gewalt als Frauen!“ Die antifeministische Bewegung hat den Betroffenenschutz für sich entdeckt. Eigentlich mal eine positive Entwicklung, wäre da nicht der bekannte Wolf im Schafspelz. Denn hier geht es um Geld und Tatsachenverdrehung. Antifeministische Männerrechtler pochen gerne auf die gesetzlich verankerte Gleichberechtigung, auch im Bereich des Gewaltschutzes. Auf deren Grundlage sollen Förderprogramme gegen Gewalt an Frauen auch auf schutzbedürftige Männer erweitert werden. Ein Lösungsansatz sollen Männerhäuser sein, in denen männliche Gewaltbetroffene und ihre Kinder Schutz finden können. So weit so gut, könnte man meinen – gewaltbetroffene Männer müssen definitiv die Unterstützung erhalten, die ihnen zusteht.

Aber wen sehen Antifeminist*innen als Ursache von Gewalt gegen Männer und als Unterdrücker*innen ihrer Rechte? Natürlich die „fortschreitende Gleichberechtigung in westlichen Gesellschaften“ und „kulturfremde“ Männer. Und schon legt der Wolf den Schafspelz ab und zeigt, dass es wieder um die Durchsetzung einer antifeministischen und rassistischen Agenda geht. Auch hier findet sich die antifeministische Strategie der Tatsachenumdrehung wieder: So zirkuliert beispielsweise die Behauptung, dass Frauen in Wahrheit gewalttätiger in Beziehungen seien als Männer, das habe eine wissenschaftliche Studie des Robert-Koch-Instituts (RKI) ergeben.((Schlack, Robert, Rüdel, J., Karger, A. & Hölling, H. (2013). Körperliche und psychische Gewalterfahrungen in der deutschen Erwachsenenbevölkerung. In: Bundesgesundheitsblatt 2013 (56): 755–764. https://edoc.rki.de/handle/176904/1504))

Wie sieht die Realität aus?

Ja, laut der Polizeilichen Kriminalstatistik erfahren Männer gesamtgesellschaftlich betrachtet häufiger Gewalt als Frauen.((Bundeskriminalamt (2012-2021). Polizeiliche Kriminalstatistiken. https://www.bka.de/DE/AktuelleInformationen/StatistikenLagebilder/PolizeilicheKriminalstatistik/pks_node.html)) Wie so oft ist aber auch hier ein zweiter Blick nötig: Denn die meisten Männer erfahren Gewalt durch andere Männer.((Lenz, Hans-Joachim (2004). Männer als Opfer von Gewalt. Bpb. https://www.bpb.de/apuz/27889/maenner-als-opfer-von-gewalt?p=all)) Je nach Alter und Lebensbereich unterscheiden sich die dahinterstehenden Gewaltformen und Machtstrukturen. Ein prominentes Beispiel ist in Deutschland sexualisierte Gewalt gegen Jungen im Kontext Kirche. Vor allem im öffentlichen Raum, in der Schule, am Arbeitsplatz oder in Vereinen sind die Täter häufiger cis männlich. Im nahen Umfeld, also in der Familie und in (heterosexuellen) Beziehungen, steigt der Anteil weiblicher Täterinnen zwar, überschreitet den männlicher Täter jedoch nicht.((Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2005). Gewalt gegen Männer. Personale Gewaltwiderfahrnisse von Männern in Deutschland. https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/studie-gewalt-gegen-maenner-84660
Bundeskriminalamt (2015-2020). Partnerschaftsgewalt. Kriminalstatistische Auswertung. https://www.bka.de/DE/AktuelleInformationen/StatistikenLagebilder/Lagebilder/Partnerschaftsgewalt/partnerschaftsgewalt_node.html)) Die von Antifeminist*innen häufig zitierte RKI-Studie, dass Frauen in Partnerschaftsbeziehungen angeblich gewalttätiger seien als Männer, wurde bereits von Expert*innen aus der geschlechtersensiblen Gewaltforschung widerlegt.((Nationales Netzwerk Frauen und Gesundheit (2013). Valide Aussagen zu Gewalt im Geschlechterverhältnis erfordern eine gendersensible Erfassung. http://nationales-netzwerk-frauengesundheit.de/downloads/Stellungnahme_DEGS-Gewalt.pdf
Schröttle, Monika (2013). Die Studienergebnisse des Robert-Koch-Instituts zu Gewalt gegen Frauen und Männer: Ein Lehrstück für die Notwendigkeit einer methodisch versierten Erfassung, Auswertung und Interpretation geschlechtervergleichender Daten im Rahmen einer geschlechtersensiblen Gewalt- und Gesundheitsforschung. https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Studien/Degs/degs_w1/Basispublikation/Stellungnahme_Schroettle.pdf?__blob=publicationFile)) Das Forschungsinstitut hat die konstruktive Kritik angenommen und die Studie inzwischen revidiert.((Robert Koch Institut (2013). Stellungnahmen zum Artikel „Körperliche und psychische Gewalterfahrungen in der deutschen Erwachsenenbevölkerung“. https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Studien/Degs/degs_w1/Basispublikation/Gewalt_Stellungnahmen.html
Baer, Angela (2013). Männer Opfer von Gewalt in Beziehungen? Robert-Koch-Institut zeigt in Studie wenig Gendersensibilität – Kritik des Nationalen Netzwerks Frauen und Gesundheit wird ernst genommen. Berufsverband Psychosoziale Berufe. https://www.dgvt-bv.de/news-details/?tx_ttnews%5Btt_news%5D=3336&cHash=ffb79d297ca2d2dd4f893017d7182b25))

Auch die BKA-Statistiken zeigen, dass die Opfer von partnerschaftlicher Gewalt zu über 80 Prozent weiblich und zu unter 20 Prozent männlich sind.((Bundeskriminalamt (2015-2020). Partnerschaftsgewalt. Kriminalstatistische Auswertung. https://www.bka.de/DE/AktuelleInformationen/StatistikenLagebilder/Lagebilder/Partnerschaftsgewalt/partnerschaftsgewalt_node.html)) Das bedeutet natürlich nicht, dass die betroffenen Männer links liegen gelassen werden dürfen. Es gibt bereits Initiativen und Projekte, die sich für diese Gewaltbetroffenen einsetzen und die Strukturen hinter den Gewaltformen untersuchen.((Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (o.J.). Hilfe und Beratung bei Gewalt. https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/gleichstellung/frauen-vor-gewalt-schuetzen/hilfe-und-vernetzung/hilfe-und-beratung-bei-gewalt-80640)) Antifeminist*innen geht es jedoch nicht um Betroffenenschutz, sondern um Polarisierung und die letztendliche Abschaffung von Schutzprogrammen für Frauen.

Gewalt gegen queere Männer

Darüber hinaus blenden antifeministische Akteur*innen gerne homo- und transfeindliche Gewalttaten aus, obwohl diese in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen haben.((Lesben- und Schwulenverband (o.J.). Homophobe Gewalt: Angriffe auf Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans- und Intergeschlechtliche Menschen (LSBTI). https://www.lsvd.de/de/ct/2445-Homophobe-Gewalt-Angriffe-auf-Lesben-Schwule-bisexuelle-trans-und-intergeschlechtliche-Menschen-LSBTI#wie-viel-hasskriminalitaet-gegen-lsbti)) Ihre Scheuklappen legen sie bei homofeindlichen Übergriffen bequemerweise nur dann ab, wenn sie die Täter als „nicht-deutsch“ markieren können. Dabei spielt die Identität und der Pass der Person keine Rolle, Schwarze Männer und Männer of Color((Erklärung des Begriffs ‚of Color‘: „People of Color (PoC) ist eine Selbstbezeichnung von Menschen mit Rassismuserfahrung. […] Es geht nicht um Hautfarben, sondern um die Benennung von Rassismus und den Machtverhältnissen in einer mehrheitlich weißen Gesellschaft.“ Siehe: Neue deutsche Medienmacher*innen (o.J.). People of Color (PoC). https://glossar.neuemedienmacher.de/glossar/people-of-color-poc/)) werden generell als nicht-deutsch und als Gefahr für „westliche“ homosexuelle Menschen konstruiert.((Natürlich können auch Schwarze Männer und Männer of Color homo- und transfeindliche Gewalt ausüben. Genauso wie sie von (rassistischer) Homo- und Transfeindlichkeit betroffen sein können. Diese wird jedoch von Antifeminist*innen kaum thematisiert.)) Hier zeigt sich mal wieder die Widersprüchlichkeit antifeministischer Narrative: Einerseits wird massiv gegen queere((Erklärung des Begriffs ‚queer‘: „Im Englischen war ‚queer‘ lange Zeit ein Schimpfwort, insbesondere gegenüber schwulen Männern. Heute wird der Begriff aber meist positiv als Selbstbezeichnung gebraucht, vor allem von Menschen, die ihre Identität als ‚außerhalb der gesellschaftlichen Norm‘ ansehen.“ Zur gesellschaftlichen Norm gehört z.B. heterosexuell und cis zu sein. Siehe: Queer Lexikon (2017). Queer. https://queer-lexikon.net/2017/06/08/queer/ & https://queer-lexikon.net/2017/06/15/cis/)) Menschen gehetzt, andererseits wird skandiert, dass homosexuelle Menschen in Deutschland vor „den homophoben Anderen“ geschützt werden müssten.((Özdemir, Kadir (2018). (K)ein Recht auf Anderssein: Rassismus, Rechtspopulismus und LSBTIQ*. https://www.gwi-boell.de/de/2018/10/15/kein-recht-auf-anderssein-rassismus-rechtspopulismus-und-lsbtiq)) Transfeindliche Gewalttaten werden hingegen aus einem ebenso simplen wie erschreckendem Grund kaum instrumentalisiert: trans und nicht-binäre Menschen kommen im gesellschaftlichen Weltbild von Antifeminist*innen nicht vor, ihre Lebensrealität und häufig gar ihre gesamte Existenz werden verneint – das zeigen nicht zuletzt die Massen an menschenfeindlichen Kommentaren antifeministischer Akteur*innen, mit denen trans Menschen in Sozialen Medien zu kämpfen haben.

Feministische Forderungen

1. Kein gegeneinander Ausspielen

Männer werden durch politische Förderprogramme, die Gewalt an Frauen bekämpfen sollen, nicht benachteiligt. Bei einem Betroffenenverhältnis von 80 – 20((Plus/Minus der Anteil der Betroffenen mit anderen Geschlechtern, die bisher kaum in offiziellen Statistiken auftauchen oder einfach subsummiert werden.)) im Bereich häusliche Gewalt wäre es schlicht und ergreifend unsinnig, die Gelder 50 – 50 zu verteilen. Natürlich braucht es auch finanzielle Ressourcen, um gewaltbetroffene Männer zu schützen. Das Problem ist aber vor allem der maßlos unterfinanzierte Opferschutz in Deutschland und nicht etwa eine „männerdiskriminierende Gleichstellung“. Damit möglichst viele Menschen geschützt werden können, müssen die Gelder bedarfsgerecht verteilt werden.

2. Feministische Perspektiven auf Männlichkeit

Jungen und Männern dürfen ihre Gewalterfahrungen nicht abgesprochen werden. Gleichzeitig muss sich die Gesellschaft mit den Strukturen auseinandersetzen, die zu Gewalt gegen Männer führen. Dazu gehört die klare Benennung der Täter: Die meisten Jungen und Männer erfahren Gewalt von anderen Männern. Gefährliche Männlichkeitsbilder von vermeintlicher „Härte“ und „Stärke“ hindern Betroffene daran, offen über ihre Erfahrungen sprechen zu können und ernst genommen zu werden. Tabus und Geschlechterklischees muss entgegengewirkt werden.

Und auch hier gilt: Intersektionalität((Erklärung des Begriffs ‚Intersektionalität’: „Intersektionalität ist ein Begriff, der das Zusammenwirken mehrerer Unterdrückungsmechanismen beschreibt. […] Gemeint ist damit, dass verschiedene Diskriminierungsformen nicht einzeln für sich wirken und einfach zusammengezählt werden können, sondern dass sie sich gegenseitig beeinflussen und so auch neue Formen der Diskriminierung entstehen können.“ Siehe: Vielfalt Mediathek (o.J.). Intersektionalität. https://www.vielfalt-mediathek.de/intersektionalitaet))! Nicht alle Jungen und Männer sind von gleichen Gewaltformen betroffen. Gerade die spezifischen Erfahrungen von trans, inter, nicht-binären, schwulen und bisexuellen Männern müssen sichtbarer gemacht werden.

3. Gegen rassistische Instrumentalisierung

Menschen daran zu hindern nach Deutschland zu kommen, wird (queerfeindliche((Erklärung des Begriffs ‚Queerfeindlichkeit‘: „Queerfeindlichkeit bezeichnet die Diskriminierung von queeren Menschen“, also z.B. Menschen, die nicht heterosexuell und/oder cis geschlechtlich sind. Siehe: Queer-Lexikon (o.J.). Queerfeindlichkeit. https://queer-lexikon.net/2020/04/29/queerfeindlichkeit/ & Queer-Lexikon (o.J.). Cis. https://queer-lexikon.net/2017/06/15/cis/))) Gewalt nicht beseitigen. Queerfeindlichkeit findet sich in allen Teilen der Gesellschaft und ist gerade auch in antifeministischen Kreisen weit verbreitet. Darüber hinaus blendet dieses Narrativ die Lebensrealitäten von Menschen aus, die nach Deutschland kommen, weil sie wegen ihrer Sexualität und Geschlechteridentität im eigenen Land verfolgt werden. Übrigens: Die heutige Queerfeindlichkeit sowie die Vorstellung von Geschlecht in vielen Ländern sind auch direkte Konsequenzen der Kolonialisierung durch europäische Kolonialmächte.((Queer.de (2018). Theresa May bedauert Homo-Verfolgung in Ex-Kolonien. https://www.queer.de/detail.php?article_id=31023
Scheuß, Christian (2008). Die Vertreibung aus dem Serail. Queer.de. https://www.queer.de/detail.php?article_id=9671))

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