»Hilfe, die ‚Gender-Ideologie‘ macht Kinder homosexuell und trans«

Ein Kind läuft mit einem regenbogenfarbenen Drachen in der Hand. Davor steht ein Mann mit einem entsetzten Gesichtsausdruck. Seine Stirn leuchtet rot, seine Augen sind aufgerissen und sein Mund steht offen. Er hebt wie in Schockstarre die Hände vor die Brust.

Wie viel Kinderschutz steckt in der Angst vor Aufklärung über sexuelle und geschlechtliche Vielfalt? Spoiler: gar keiner.

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»Hilfe, die ‚Gender-Ideologie‘ macht Kinder homosexuell und trans«

„Was, mein Kind soll im Unterricht über Homosexualität sprechen? Lernen, was die Wörter trans, nicht-binär und queer((Erklärung des Begriffs ‚queer‘: „Queer wird häufig als Sammelbegriff für Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen verwendet. Als Selbstbezeichnung wird er aber oft auch benutzt, um eine Identität, jenseits von Kategorien wie „Mann“ und „Frau“ oder „heterosexuell“ und „lesbisch“/ „schwul“ zu bezeichnen. Queer kann sich auch auf eine Haltung beziehen, die Zweigeschlechtlichkeit und Heteronormativität in Frage stellt.“ Siehe: LSDV (o.J.). Was bedeutet LSBTI? Glossar der sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt. https://www.lsvd.de/de/ct/3385-Was-bedeutet-LSBTI-Glossar-der-sexuellen-und-geschlechtlichen-Vielfalt#queer)) bedeuten? Das geht zu weit!“ Wenn es darum geht, die Sichtbarkeit von LGBTIQA+((Erklärung der Abkürzung LGBTIQA+: „Abkürzung für Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans Personen, inter Personen, queere Personen, Asexuelle und mehr. Damit werden (einige) geschlechtliche und sexuelle Identitäten jenseits der heterosexuellen Norm zusammengefasst.“ Siehe: Amadeu Antonio Stiftung (o.J.) Glossar Geschlecht und LSBTIQA+. https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/antifeminismus/glossar/))-Themen in Schulen und Kindergärten zu fördern, lassen manche Reaktionen glauben, das Ende der Welt stünde bevor.((Ketelhut, Klemens (2018). „Bildungsplan und Gender-Wahn“? Die Debatte um den Bildungsplan in Baden-Württemberg und ihre Folgen. Gunda Werner Institut. https://www.gwi-boell.de/de/2018/02/23/bildungsplan-und-gender-wahn-die-debatte-um-den-bildungsplan-baden-wuerttemberg-und-ihre)) Gegner*innen nennen vielfaltssensible sexuelle Aufklärung „Frühsexualisierung“((Queer.de (2018). Die Landtagswahl in Hessen im queeren Parteiencheck. https://www.queer.de/detail.php?article_id=32013)) und behaupten, dass dahinter eine übermächtige „Homo- und Translobby“ stehe.((Blech, Norbert (2018). So schamlos lügen David Berger und Nicole Höchst über queere Schulaufklärung. Queer.de. https://www.queer.de/detail.php?article_id=32530)) Diese wolle Kinder „umerziehen“ und ihre Köpfe mit „Gender-Ideologie“ füllen. Unter dem Deckmantel der „Besorgten Eltern“ schieben sie die Sorge um die Kinder und das vermeintliche Kindeswohl vor, um LGTBIQA+-feindliche Forderungen zu verbreiten.((Amadeu Antonio Stiftung (2018). Ene, mene, muh – und raus bist du! Ungleichwertigkeit und frühkindliche Pädagogik. https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/wp-content/uploads/2018/12/kita_internet_2018.pdf)) Die Thematisierung queerer Lebensformen würde zu „nachhaltigen Schädigungen“ oder sogar zur „Hypersexualisierung“ junger Menschen führen.((Wittenius, Marie (2022). Die transnationale Anti-Gender-Bewegung in Europa. Gunda Werner Institut. https://www.gwi-boell.de/de/2022/02/03/die-transnationale-anti-gender-bewegung-europa))

Das Spektrum der Vielfaltssexualkunde-Gegner*innen umfasst Menschen aus rechtsextremen und –populistischen sowie christlich-fundamentalistischen Kreisen.((Kemper, Andreas (2014). Militante Feministin Gottes. taz. https://taz.de/Christliche-Aktivistin-Birgit-Kelle/!5033760/
Ayyadi, Kira (2018). Die Frau als Bedrohung für die innere Sicherheit. Belltower News. https://www.belltower.news/der-antifeminismus-der-neuen-rechten-die-frau-als-bedrohung-fuer-die-inneren-sicherheit-46650/)) Aber auch Menschen, die sich selbst als die „gesellschaftliche Mitte“ bezeichnen, zeigen sich über die Ablehnung von queeren Themen offen für rechte Politiken. Hier bestätigt sich, dass Queerfeindlichkeit tief in der Gesellschaft verankert ist und maskiert als „Kinderschutz“ ein leichtes Einfallstor für gefährliche Allianzen darstellt.((LSDV (o.J.). „Demo für Alle“ – Rechtskonservative Kampfbegriffe und Akteur*innen. https://www.lsvd.de/de/ct/652-Demo-fuer-Alle-Rechtskonservative-Kampfbegriffe-und-Akteur-innen
Queer.de (2018). Die Landtagswahl in Hessen im queeren Parteiencheck. https://www.queer.de/detail.php?article_id=32013
Brauns, Bastian (2016). Lesben und Schwule in der Union kritisieren CSU. Zeit. https://www.zeit.de/politik/deutschland/2016-11/grundsatzprogramm-csu-rechtsruck-homosexuelle))

Gefahr für Kinder und angebliche „Volksgemeinschaft“

Die AfD forderte 2020 Verbote von schulischer Sexualaufklärung, die sexuelle und geschlechtliche Vielfalt berücksichtigt, oder gar die Bestrafung der entsprechenden Lehrkräfte: Die angebliche „Frühsexualisierung“, „Gender-Ideologie“ und „Homo- und Translobby“ diskriminiere heterosexuelle und zweigeschlechtliche Lebensformen – diese Umkehrung gesellschaftlicher Machtverhältnisse ist eine gängige antifeministische Strategie. Doch die AfD geht noch weiter: Aufklärung fördere sexuelle Gewalt gegen Kinder, da sie so leichter Opfer pädophiler Übergriffe würden.((Blech, Norbert (2020). AfD will „Frühsexualisierung“ unter Strafe stellen. https://www.queer.de/detail.php?article_id=36514)) Dies ist ein altbekanntes homofeindliches Narrativ: LGBTIQA+ werden als „unnatürlich“ und „unnormal“, als physisch oder psychisch kranke und „perverse“ Personen dargestellt, vor denen Kinder geschützt werden müssten.

Verschwörungserzählungen

Einige Antifeminist*innen sind in mehreren bekannten Initiativen gegen Vielfaltssexualpädagogik aktiv, z.B. bei den „Besorgten Eltern“ und der „Demo für Alle“. Diese stehen im engen Austausch mit europaweit agierenden rechten und christlich-konservativen Organisationen. Darunter mischen sich auch immer wieder bekannte Verschwörungstheoretiker*innen.((Riedlberger, Johannes (2015). Besorgte Eltern – Wer sie sind und was wie wollen. https://www.belltower.news/besorgte-eltern-wer-sie-sind-und-was-wie-wollen-39246/)) Daher ist es nicht verwunderlich, dass antifeministische Mythen und Falschbehauptungen schnell in Verschwörungserzählungen mit rassistischen, homo- und transfeindlichen sowie antisemitischen Inhalten abrutschen.((Amadeu Antonio Stiftung (2021). Down the rabbit hole. Verschwörungsideologien: Basiswissen und Handlungsstrategien. https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/wp-content/uploads/2021/06/DownTheRabbitHole_web.pdf)) Im Zuge der Corona-Pandemie kam es zu Verbindungen dieser Initiativen mit der Coronaleugnungs-Szene. Denn die Kinder müssten vermeintlich nicht nur vor „Frühsexualisierung“ geschützt werden, sondern auch vor Impfungen, Maskenpflicht und weiteren Infektionsschutzmaßnahmen.((Fuldaer Zeitung (2021). Corona-Demo in Fulda: Initiative „Besorgte Eltern“ wettern gegen Test- und Maskenpflicht für Kinder. https://www.fuldaerzeitung.de/fulda/corona-demo-fulda-eltern-test-maskenpflicht-kinder-initiative-besorgte-polizei-90464050.html))

Realpolitische Folgen

Was solch politischer Druck gegen die Rechte von queeren Menschen und (anderen) Frauen für extreme, realpolitische Auswirkungen haben kann, sehen wir beispielsweise in der Türkei. 2021 beschließt die türkische Regierung aus der Istanbul-Konvention((UN Women (o.J.). Die Istanbul-Konvention. https://www.unwomen.de/informieren/internationale-vereinbarungen/die-istanbulkonvention.html)) auszutreten, mit der u.a. Gewalt in der Familie und in Partnerschaften bekämpft werden soll. Ihr Grund? Die Konvention normalisiere Homosexualität und würde von einer Lobby gepusht.((Bellut, Daniel Derya (2021). Istanbul-Konvention: Ankaras homophobe Begründung. https://www.dw.com/de/istanbul-konvention-ankaras-homophobe-begr%C3%BCndung/a-56955759)) Ähnliche Bestrebungen mit gleicher Rhetorik zeigen sich in weiteren Ländern wie Polen und Ungarn.((Burnett, Stephanie (2021). Getrübte Freude: Zehn Jahre Istanbul-Konvention. https://www.dw.com/de/getrübte-freude-zehn-jahre-istanbul-konvention/a-57475296)) Auch hier wird vermeintliches Kindeswohl als Vorwand genutzt, um queerfeindliche Politik und Hetze zu machen.

Wie sieht die Realität aus?

Einseitige Darstellungen von Sexualität

Die vermeintlichen Argumente rund um „Frühsexualisierung“ basieren auf vielen Falschdarstellungen.((Blech, Norbert (2018). So schamlos lügen David Berger und Nicole Höchst über queere Schulaufklärung. https://www.queer.de/detail.php?article_id=32530)) Kinder und Jugendliche kommen meist lange vor der schulischen Sexualkunde über Werbung, Videospiele, Filme, Pornografie, Gespräche zwischen Freund*innen etc. in Kontakt mit Sex und Sexualität. Meist sind es diese offen zugänglichen Formate, welche das Verständnis von Sexualität der Kinder und Jugendlichen als erstes beeinflussen. Problematisch ist hier nicht unbedingt der Konsum an sich, sondern die einseitigen Inhalte. Denn häufig überwiegen dominante Männer- und erniedrigende Frauenrollen, die als einzig „normale“ Beziehungsformen dargestellt werden, Stichwort: Heteronormativität!((Erklärung des Begriffs ‚Heteronormativität‘: „Heteronormativ bedeutet die Einstellung, dass Heterosexualität die Norm sei. „Alles andere“, also die ganzen schönen Buchstaben und Farben im Regenbogen, weicht demnach von dieser Norm ab und gilt als „unnormal“. Heteronormativität zieht sich durch alle gesellschaftlichen Strukturen. Sie wirkt ausgrenzend und abwertend.“ Siehe: frauenseiten bremen (2018). Was ist eigentlich… Heteronormativität? https://frauenseiten.bremen.de/blog/was-ist-eigentlich-heteronormativitaet/))

Andere Formen von Geschlechtsidentität oder Themen wie Asexualität und Aromantik kommen kaum vor.

Sexuelle Bildung als Gewaltprävention

Die Behauptung, dass vielfaltsbewusste sexuelle Aufklärung Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen fördere, verdreht die Realität. Denn gute Sexualpädagogik bedeutet sogar Gewaltprävention: Studien belegen, dass das Reden über Sexualität Kindern und Jugendlichen dabei hilft, ihre eigenen Grenzen und die von Anderen kennen und akzeptieren zu lernen.((Sielert, Uwe (2016). Kampfbegriff Frühsexualisierung. https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2016-11/sexualkunde-fruehsexualisierung-bildung-afd/komplettansicht)) In altersgerechten Formaten lernen sie, zwischen verschiedenen Verhaltensweisen zu unterscheiden: einvernehmliche Geheimnisse vs. Schweigen aus Angst vor Bestrafung, freiwillige, zugestimmte vs. unangenehme, nicht gewünschte Berührungen.((BMBF (2019). Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche Forschung fördern, Prävention verbessern, pädagogische Praxis stärken. https://www.bmbf.de/SharedDocs/Publikationen/de/bmbf/pdf/sexualisierte-gewalt-gegen-kinder-und-jugendliche.pdf?__blob=publicationFile&v=2))

Queere Sichtbarkeit und Gleichberechtigung

Niemand fordert, dass im Unterricht nicht mehr über Heterosexualität oder cis Geschlechtlichkeit geredet wird. Wie so häufig wird die Forderung nach einem Platz am Tisch als komplette Übernahme aller Stühle dargestellt. Für viele queere Menschen ist die Schule kein sicherer Ort, sondern einer, in dem das Zeigen der eigenen Identität mit der Angst vor Ausschlüssen verbunden ist. Dabei gab es Homosexualität, trans, inter und queere Identitäten schon immer. Ihre Sichtbarkeit in Lehrplänen und verschiedenen Schulfächern größer zu machen, kann allen Menschen ermöglichen, sich gleichberechtigt und selbstbestimmt zu entfalten. Und darum sollte es doch eigentlich beim Kindeswohl gehen.

Ablenken von sexualisierter Gewalt in den eigenen Reihen

Ablenkungsmanöver sind gängiger Bestandteil antifeministischer Strategien. Sei es die rassistische Behauptung, dass nur Männer bestimmter Herkunft Sexualstraftaten in Deutschland begehen, oder die homofeindliche Aussage, dass Sexualpädagogik Kinder zu leichteren Opfern für sexuelle Übergriffe mache: Mit ihren Bedrohungsszenarien lenken Antifeminist*innen von sexualisierter oder häuslicher Gewalt in den eigenen Kreisen ab. Ein äußeres Feindbild soll für mehr Einheit und Zusammenhalt in den eigenen Gruppen sorgen. Die sexualisierte Gewalt, die in rechten Szenen oder in christlichen Einrichtungen verübt wird, wird indes unter den Teppich gekehrt.((Kleffner, Heike (2014). Extrem rechter Frauenhass und neonazistische Gewalt. https://www.antifainfoblatt.de/artikel/extrem-rechter-frauenhass-und-neonazistische-gewalt))

Feministische Forderungen

1. Sexuelle Selbstbestimmung als Gewaltprävention

Sexualität und Geschlecht darf kein Tabuthema sein: Sich der eigenen Grenzen und Wünsche bewusst zu sein, kann dabei helfen, Gefahrensituationen zu erkennen und entsprechend zu handeln. Im Rahmen von vielfaltsbewusster sexueller Bildung in Kindergärten und Schulen lernen Menschen auf altersgerechte Art und Weise, wie sie selbstbestimmt entscheiden und handeln. Kinder und Jugendliche sollten außerdem schon früh üben, die Grenzen anderer zu erkennen und zu respektieren.

Weiterhin braucht es mehr Erwachsenenbildungsprogramme zu diesen Themen. Auch Pädagog*innen müssen lernen, wie sie ohne Scham und mit Respekt über Sexualität reden, um Übergriffe frühzeitig zu erkennen und den Betroffenen im Ernstfall Hilfe leisten zu können.((Einige Beispiele für Anlaufstellen für Hilfe gegen sexualisierte Gewalt:
Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch https://www.hilfe-portal-missbrauch.de/startseite
Hilfetelefon berta – Beratung bei sexualisierter und ritueller Gewalt https://nina-info.de/berta
Tauwetter https://www.tauwetter.de/de/anlaufstelle/adressen.html#spezialisierte%20Beratung))

2. Gleichberechtigung und Sichtbarkeit von Vielfalt fördern

Wir leben in einer pluralen Gesellschaft mit sehr diversen Lebensentwürfen. Einseitige Normen dazu, wie Geschlechter, Liebe und Sexualität aussehen müssen, beschränken Menschen in ihrer freien und selbstbestimmten Entfaltung – auch heterosexuelle cis Personen. Wir brauchen ein „Recht auf Differenz in einer globalen Gemeinschaft“.((Hechler, Andreas; Stuve, Olaf (2015). Geschlechterreflektierte Pädagogik gegen Rechts: Einleitung. https://www.genderopen.de/bitstream/handle/25595/185/Hechler_Stuve_2015_Geschlechterreflektierte%20Pa%CC%88dagogik%20gegen%20Rechts.pdf?sequence=3)) Dazu gehört, verschiedene Körper und Beziehungsformen anzuerkennen. Schulbildung muss eine zentrale Rolle dabei spielen, dass Menschen ein gleichberechtigtes und diskriminierungsfreies Miteinander erlernen.

3. Klare Kante gegen Queerfeindlichkeit und Antifeminismus

Medien und Politiker*innen müssen erkennen, dass es sich hier nicht nur um ein „Problem von rechts“ handelt. LGBTIQA+-Feindlichkeit findet sich in allen Bereichen der Gesellschaft. Vermeintliches Kindeswohl zu instrumentalisieren, ist eine antifeministische Kernstrategie. Die Gesellschaft muss dafür sensibilisiert werden, um nicht über dieses Thema in die Fänge rechter Weltanschauungen zu gelangen. 

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